
Wenn Touristen heute über den Neumarkt schlendern, die Frauenkirche bestaunen oder ein Eis an der Brühlschen Terrasse essen, ahnen sie kaum, dass tief unter ihren Füßen ein verborgenes Netz von Gängen und Kammern liegt. Dresden ist nicht nur eine Stadt der barocken Fassaden, der Kunst und Musik, sondern auch eine Stadt der Unterwelten. Einer dieser Gänge, fast vergessen und nur noch in bruchstückhaften Quellen erwähnt, führte einst vom Residenzschloss hinunter bis an die Elbe. Ein Fluchtweg, ein Geheimnis, eine Lebensversicherung für die Herrschenden – und heute ein verschüttetes Stück Geschichte.
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Ein Gang ins Dunkel
Die ersten Hinweise auf den Tunnel stammen aus dem 16. Jahrhundert. In den Chroniken des Hofarchitekten Caspar Voigtel wird ein „geheimer Weg zur Elbe“ erwähnt, dessen Existenz jedoch nie offiziell bestätigt wurde. Vermutlich war er Teil eines Verteidigungsplans während der Wirren des Dreißigjährigen Krieges. Dresden war zwar nie so stark belagert wie andere Städte, doch die Bedrohung durch fremde Truppen war allgegenwärtig. Ein Fluchtweg in Richtung Elbe, der unbemerkt verlassen werden konnte, war von unschätzbarem Wert.
Man erzählt, dass der Gang in den Katakomben des Residenzschlosses begann, tief unter den dicken Mauern. Von dort führte er hinab, durch enge, feuchte Gänge, unter Häusern hindurch, bis zu einer unscheinbaren Tür nahe des Elbufers. Wer den Tunnel nutzte, konnte in ein Boot steigen und unauffällig entkommen – hinaus aus der Stadt, hinein in die rettende Dunkelheit des Flusses.
Alltag im Untergrund
Doch nicht nur in Kriegszeiten spielte der Tunnel eine Rolle. Im 18. Jahrhundert, als Dresden unter August dem Starken zu einer der prunkvollsten Residenzstädte Europas aufstieg, nutzte man die Gänge auch ganz pragmatisch. Sie dienten als Vorratslager, Wein- und Getreidefässer wurden dort kühl gelagert. Es gibt sogar Berichte, dass Diener heimlich durch den Tunnel liefen, um die Hofküche zu beliefern, ohne dass die Bürger draußen auf dem Neumarkt sahen, welche Mengen an Luxusgütern in den Palast getragen wurden.
„Manche sagen, es war ein Gang für Könige. Ich glaube, es war auch ein Gang für die Diener“, schrieb ein unbekannter Chronist im 18. Jahrhundert.
Man kann sich die Szene vorstellen: Im Halbdunkel, nur mit Fackeln beleuchtet, rollen zwei Diener ein schweres Fass durch den Tunnel. Der Boden ist feucht, es riecht nach Stein, Erde und Wein. Über ihren Köpfen pulsiert das Leben der barocken Stadt, doch hier unten, im Schatten, wird gearbeitet, geschleppt, gehustet.
Feuer und Asche
Dann kam das Jahr 1945. Dresden versank im Inferno der Bombennächte. Menschen suchten überall Schutz – in Kellern, in Bunkern, in den Resten alter Gänge. Zeitzeugen berichten, dass auch Teile des Tunnelsystems damals genutzt wurden. Ganze Familien sollen hinuntergegangen sein, um dem Feuersturm zu entkommen. Manche kehrten nie zurück.
Eine Frau aus der Dresdner Neustadt erinnerte sich Jahrzehnte später:
„Mein Vater sagte, wir gehen in den Gang unter dem Schloss. Es sei sicher dort. Aber die Luft wurde schlecht, der Rauch drang hinein. Wir hörten Schreie, Husten. Dann kehrten wir um. Andere blieben unten.“
Ob genau dieser Tunnel gemeint war, lässt sich heute nicht mehr rekonstruieren. Aber die Vorstellung, dass Menschen in jenen alten, fast vergessenen Gängen ihr Leben suchten – und manchmal auch verloren –, gibt der Geschichte eine beklemmende Dimension.
Spuren im Heute
Nach dem Krieg, während des Wiederaufbaus, gerieten die Tunnel vollends in Vergessenheit. Manche wurden zugeschüttet, andere beim Bau moderner Kanalisation zerstört. Nur wenige Fragmente blieben erhalten. In den 1990er Jahren, während Bauarbeiten an der Schlossstraße, stieß man auf ein zugemauertes Stück eines alten Ganges. Archäologen dokumentierten ihn, fotografierten die Mauerreste – und verschlossen ihn wieder. Für die Öffentlichkeit ist er bis heute unzugänglich.
Doch die Legenden blieben. Manche Bauarbeiter erzählen von Türen, die ins Nichts führen, von Mauern, hinter denen Hohlräume klingen, wenn man gegen sie klopft. Ein Stadtführer schwört, er habe einmal im Kerzenschein ein altes Gewölbe gesehen, in dem noch ein verrostetes Fass stand.
Erinnerung im Dunkel
Der Tunnel unter Dresden ist heute kein begehbarer Ort mehr. Er liegt verschüttet, verborgen, vergessen. Doch seine Geschichte lebt weiter – in den Archiven, in Erzählungen, in den kleinen Spuren, die man bei genauem Hinsehen noch findet.
Und vielleicht ist das die eigentliche Bedeutung solcher „vergessenen Geschichten“: Sie erinnern uns daran, dass jede Stadt mehr ist als ihre sichtbaren Fassaden. Unter unseren Füßen, hinter Mauern, in alten Papieren schlummern Welten, die nur darauf warten, wieder ans Licht geholt zu werden.
Der Tunnel mag verschlossen sein – doch die Geschichte bleibt offen.